Angeregt durch die einstige Sommeruniversität Schaumburg in Rinteln/Weser sowie den Hochschul-Informationstag Weserbergland in Hameln am 2021 (der nächste Schaumburger Berufs- und Studien-Informationstag am 05.09.2024 in Stadthagen Bildungsbüro Industriestr.), wo interessierte Schüler/-innen der Oberstufe und angehende Studierende sich von den Firmen und Hochschulen der Umgebung über Ausbildungsmöglichkeiten beraten lassen können, möchte ich hier einen Beitrag zur Wissenschafts-Propädeutik/-Orientierung für diesen Adressatenkreis leisten und auf die Schlüsselqualifikation der Textanalyse und Textinterpretation als Arbeitstechnik eingehen. Interessierte können sich mit mir auch gerne per E-mail unter dietrichpukas@t-online.de in Verbindung setzen, um Kritik zu üben, Ergänzungen und Differenzierungen anzuregen, Verbesserungsvorschläge einzubringen, Erfahrungen auszutauschen.
Texte als Verständigungsmittel in Lebenssituationen
"Ohne Texte läuft nichts!" kann man behaupten. Denn durch Texte verständigen wir uns Menschen in den Situationen unseres Lebens: bei der Berufsausbildung und Berufsarbeit in Schule und Betrieb; bei der Freizeitgestaltung zu Hause, im Verein, beim Sport, in der Disko; in der Öffentlichkeit beim Umgang mit Behörden, Ämtern, Geschäftsleuten ...
Die Verständigung erfolgt in mündlicher und schriftlicher Form. Ob wir jemandem "Vorsicht!" zurufen, einen Tip geben, Nachrichten hören, einen Roman lesen, telefonieren oder ein Formular ausfüllen - in jedem dieser Fälle haben wir es mit Texten zu tun, so unterschiedlich sie auch geartet und gestaltet sein mögen und was immer sie ausdrücken. Texte dienen uns zum Austausch von Informationen, Gefühlsregungen, Absichten mittels Sprache; sie lassen uns miteinander in Verbin- dung treten, veranlassen uns zu bestimmten Handlungen. Texte, die aus Wörtern, Sätzen, Sprachzeichen und gewissen Regeln zusammengefügt sind, einen Zusammenhang aufweisen und eine Bedeutung haben, stellen das wichtigste Kommunikationsmittel unter Menschen dar, die gesellschaftliche Wesen sind, in Gemeinschaften zusammenleben, miteinander umgehen, kommunizieren oder sich verständigen müssen und wollen.
Je nach Situation und Lebenszweck brauchen und gebrauchen wir verschiedene Texte. Es ist üblich, die vielen Arten von Texten, die man nach Textsorten unterscheidet, in zwei große Gruppen einzuteilen.
SACHTEXTE
DICHTERTEXTE
auch als Gebrauchtstexte oder expositorische Texte bezeichnet und so unterschieden:
auch literarische oder fiktionale Texte (erdichtete, erdachte, erfundene) genannt und so aufgeteilt:
- alltagssprachliche Texte,
- Unterhaltungs- oder Trivialliteratur,
- fachsprachlich/wissenschaftliche Texte
- anspruchsvolle Literatur oder hohe Dichtung
Einige wichtige Textbeispiele enthält die folgende Übersicht:
Kommunikationsprozess als grundlegendes Strukturierungsmodell
Wir werden im Alltag durch Sprache, d. h. aufgrund der vielfachen Texte mehr oder weniger informiert und gleichfalls manipuliert. Und wir selbst steuern ebenfalls mit Sprache andere Menschen, um unsere Interessen zu vertreten. Aber wenn Manipulation eine grundlegende Tatsache unserer Welt ist, dürfen wir uns von ihr dennoch nicht beherrschen lassen. Sei es, dass wir sie missbrauchen noch dass wir ihr erliegen. Manipulation, die andere unredlich beeinflusst, haben wir grundsätzlich zu vermeiden und Sprachsteuerung, die uns schadet, müssen wir möglichst durchschauen, um uns dagegen zu wehren. Auch bei Sach- oder Gebrauchstexten reicht es nicht aus, ihnen nur eine informative und deskriptive Funktion zuzuschreiben und sie nach Informationen abzuklopfen. Gleichfalls müssen wir ihre Sprache betrachten, um ihren appellativen Charakter und intendierte manipulative Wirkungen zu erkennen. Deshalb sollten wir in der Lage sein, Texte umfassend zu analysieren und zu deuten, und zwar indem wir den Textentstehungs- und Textanalyseprozess im kommunikativen Zusammen-hang betrachten.
Die menschliche Kommunikation stellt ein komplexes Geschehen dar und insofern liefert sie die Gesichtspunkte, die für eine relativ umfassende Textanalyse entscheidend sind. Indes wird die komplizierte Wirklichkeit anhand von Modellen anschaulich vereinfacht, um die Grundlinien zu erkennen und eine Übersicht über die Grundtatsachen zu gewinnen. Das gilt auch für das dargelegte Kommuni-kations-Modell (aus Platzgründen vertikal angeordnet, ggf. auf dem Bildschirm jeweils größer zoomen), bei dem der Text als Kommunikationsmittel im Zentrum steht und aus dem wir Gesichtspunkte zur systematischen Textanalyse ableiten. Danach kodiert der Schreiber oder Autor (und entsprechend der Sprecher oder Produzent eines mündlichen Textes) seine Textvorstellung. Das heißt, er formuliert gemäß seiner Absicht den Text, kleidet seine Gedanken in Sprache und stellt sie ggf. auch bildlich dar. Außerdem kann der Verfasser dafür Informationsquellen heranziehen. Dabei wirken auf ihn der situative und normative Kontext ein: seine konkrete Umgebung, individuelle Erfahrungen sowie die gesellschaftlichen Bedingungen (Herkunftsfamilie, Alter, Bildungsstand), was man als Textentstehungsbedingunen zu bezeichnen pflegt. Der Leser (bzw. Hörer) dekodiert oder entschlüsselt den Text, entnimmt ihm Informationen sowie die Schreiberabsicht gemäß seinen eigenen Erfahrungen und Gesellschaftsbedin-gungen und führt sie in der Regel einer Verwertungssituation zu. Jedenfalls hat die Textaufname oder Rezeption grundsätzlich Folgen und ruft Leser- oder Hörerreaktionen hervor.
Aus der dargelegten Kommunikationslinie ergeben sich folgende Aspekte zur Betrachtung und Beurteilungvon Texten: - die Voraussetzungen und Bedingungen der Textentstehung aus der situativen und gesellschaftlichen Umgebung des Autors; - der Verfasser oder Schreiber mit seiner Interessenlage bzw. der des Auftraggebers; - die strukturprägende Schreiberabsicht oder Textintention; - der Textinhalt und insbesondere der Informationsgehalt; - die Sprachgestalt oder Textform bzw. äußere Aufmachung; - der infrage kommende Leser- oder Adressatenkreis; - die mögliche Textrezeption bzw. Textwirkung bei der angepeilten Zielgruppe. Diese Kommunikationsfaktoren haben wir in der Abbildung in einem Fragesatz als einprägsamen Zusammenhang formuliert, der die Beziehung zwischen Kommunikationsmodell und Textanalyse herstellt: Unter welchen Voraussetzungen sagt wer mit welcher Absicht was auf welche Weise zu wem mit welcher Wirkung?
Textanalyse und Textinterpretation als Schlüsselkompetenz
Es ist üblich, die Beurteilungskriterien entsprechend unserer Darstellung im Schaubild zur Sach- oder Inhaltsanalyse und Form- oder Sprachanalyse sowie zur Textanalyse im engeren u. weiteren Sinne zusammenzufassen. Zur differenzierten Textanalyse werden die einzelnen Analysegesichtspunkte in einzelne Fragen aufgefächert und besonders bei Sach- und Gebrauchstexten in drei Bereiche gebündelt: Inhalts- und Sachanalyse, Form- und Sprachanalyse, Stellungnahme und Beurteilung. Dazu bringen wir im Folgenden einen allgemeinen Fragenkatalog, der je nach Texteigenart zu variieren ist und als Grundlage für die Formulierung textspezifischer Fragen genommen werden kann.
Auch zur umfassenden Interpretation von Dichterwerken oder fiktionalen Texten lässt sich unser Kommunikationsschema grundsätzlich heranziehen und auf folgende einfache Grund- oder Leitfragen konzentrieren: 1. Wer ist der Dichter oder Autor? 2. Unter welchen Umständen hat er das Werk verfasst? 3. Warum oder mit welcher Absicht will er uns etwas sagen? 4. Was will er uns sagen? 5. Wie will er es uns sagen? 6. Welchen Lesern will er es sagen? 7. Zu welchem Zweck will er es ihnen sagen?
Diese Grundfragen wird man je nach Interpretationsinteresse bzw. Unterrichtsziel, Voraussetzungen der Interpreten, Gattungsform des Werkes, Textgehalt, Entstehungszeit oder Epoche, Leserkreis, Wirkungsabsicht oder Textaufnahme-Bedingungen erweitern, abwandeln, schwerpunktmäßig wichten. Um dies zu ermöglichen oder zu erleichtern, differenzieren und systematisieren wir die Leitfragen zu dem folgenden umfangreichen Fragenkatalog der Literatur-interpretation.
1. Was für ein Mensch ist oder war der Dichter oder Verfasser? 2. Aus welchem politischen, gesellschaftlichen, kulturellen Milieu stammt er? 3. Welcher literarischen Epoche oder Literaturströmung lässt er sich zuordnen? 4. Welche Lebenseinstellung oder Weltsicht hat er? 5. Aus welchen Gründen und mit welcher Absicht schreibt er? 6. In welcher persönlichen Situation hat er das Werk verfasst? 7. Welche Bedeutung kam dem Stoff, der Thematik, Problematik des Werkes zur Entstehungszeit zu, welche heute? 8. Welche Beziehungen weist das Werk zu literarischen Vorbildern auf? 9. Welche aktuellen Bezüge oder Anspielungen auf das Geschehen der Gegenwart spielen eine Rolle? 10. Auf welche Quellen hat der Dichter zurückgegriffen?
11. Welche Bedeutung hat der Titel des Dichterwerkes, was sagt die Überschrift über das Thema aus? 12. Wovon handelt das Werk, was ist seine zentrale Thematik, sein Aussagekern, Grundmotiv, welche Leitbegriffe kommen vor? 13. In welchem situativen Umfeld (Ort, Zeit, Umstände) findet das Geschehen statt? 14. Welche gesellschaftlichen Verhältnisse der Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft werden geschildert und prägen die Handlung? 15. Welche Personen stehen im Mittelpunkt des Geschehens, welche Figuren treten noch auf, wie verhalten sie sich zueinander? 16. Wie sind die Personen charakterisiert, welche Motive, Ideen, Pläne, Hoffnungen haben sie? 17. Welches Problem bzw. welche Probleme erweisen sich für die handelnden Personen als Kernfrage oder schicksalsbestimmend? 18. Welche Problembehandlung führt uns der Dichter vor Augen, wieweit erfolgt eine Problemlösung, inwiefern bleibt das Problem offen? 19. Gibt es einen Höhepunkt oder Wendepunkt im Handlungsablauf, welche Rolle spielt er? 20. Welche Intention verknüpft der Dichter mit seiner Problemthematisierung, zu welchen Erkenntnissen will er führen?
21. Zu welcher Gattungsform gehört das Dichterwerk? 22. Was ist für die Sprachgestaltung charakteristisch: - Satzbau (Länge, Art, Verknüpfung der Sätze, Parataxe, Hypotaxe); - Wortwahl (Leit- oder Schlüsselwörter, Wortarten, Reiz- und Stimmungswörter, Fremdwörter, Fachausdrücke, Mundart, Wortneuschöpfungen); - Sprachebenen (gehobene Umgangssprache, Alltagssprache, Jargon, Vulgärsprache, Schnörkelstil); - Rhetorische Figuren (Metaphern, Symbole, Vergleiche, Übertreibungen, Steigerung, Wortspiel, Wiederholung); - Sprachstil (syntaktische Besonderheiten, traditionelle oder experimentelle Sprache)? 23. Welche Erzählstruktur ist für das Werk typisch: - Erzählhaltung oder -perspektive (Ich-Form, personale, auktoriale Erzählsituation); - Zeitgerüst (zeitdeckend, zeitraffend, zeitdehnend, Rückblende, Vorausdeutung) - Darbietungsform (Erzählbericht, Personenrede, innerer Monolog); - Epik-Form (Roman, Novelle, Kurzgeschichte, Erzählung, Sage, Anekdote, Märchen)? 24. Welche Aufbauform bzw. Bauelemente weist das Werk auf: - Sinneinheiten (große, kolon = kleinste, typische Zäsuren); - Versgestalt (Strophenform, Reimform, Versmaß, Rhythmus); - Sprachmelodie (Klangfiguren, Lautmalerei); - surrealistische Elemente (Verfremdungen, Absurditäten, kühne Chiffren, Regelverstöße)? 25. Welche Komposition oder Gliederungsstruktur prägt das Werk: - Handlungsaufbau (geschlossene, offene Form; Szenenfolge, Akte); - Figurenkonstellation und -interaktion (Monologe, Dialoge der Haupt- und Nebenfiguren, Statisten, Beiseitesprechen zum Zuschauer); - Bühnen- und Regieanweisungen (Raumkonzeption, Spielzeit, Simultaneität, Zeitsprünge, Mimik, Ausstattung)? 26. Inwiefern ist beim vorliegenden Dichterwerk die Gehalt-Gestalt-Einheit verwirklicht, stimmen Inhalt und Form überein, unterstreichen sich gegenseitig, weichen voneinander ab, besteht eine Beziehung zwischen Aussage und Darstellungsart?
27. Welchen Leserkreis will der Dichter mit dem Werk erreichen, für welche Adressaten eignet es sich und wieso? 28. Wo und wie ist das Werk veröffentlicht, wird es vertrieben; ist es leicht oder schwer zugänglich oder wird es gar über Massenmedien ausgestrahlt? 29. Was ist über die Verbreitung des Werkes und seinen Erfolg oder Misserfolg beim Publikum bekannt? 30. In welchen besonderen Verwertungssituationen oder Zeitumständen ist seine Bewährung oder Untauglichkeit zu erwarten? 31. Welches Wirklichkeitsverständnis vermittelt das Werk, inwiefern verschleiert es die Realität oder klärt es sie auf, welche Folgen können sich daraus für die Adressaten ergeben? 32. Welche Parallelen, Vergleiche, kritischen Abgrenzungen zu anderen Dichterwerken bieten sich an, drängen sich auf, sind naheliegend und weshalb? 33. Inwieweit kann es angebracht sein, den Sinn des Werkes zusammen mit anderen zu erschließen, wieweit ist Einzelinterpretation vorzuziehen oder zielt das Werk sogar auf Vereinzelung ab? 34. Wie beurteilen Sie die Thematik und Darstellungsform des Werkes von Ihrem persönlichen Leser-, Hörer- oder Zuschauerinteresse her; was gefällt Ihnen, lehnen Sie ab, befürworten oder kritisieren Sie? 35. Welche Wirkung übt das Werk auf Sie aus: Inwiefern prägt es sich Ihnen ein, bleibt es unverständlich, bereichert es Sie, weckt es Wünsche, Sehnsüchte oder schreckt es ab, fordert es Sie heraus? 36. Welche Lehren können Sie aus dem Werk ziehen, auf welche Lebenssituationen ist die erkannte Wahrheit bzw. Problematik übertragbar? 37. Inwiefern ist das Werk geeignet, zu eigener Kreativität anzuregen; welche Anlässe sind denkbar, um die Adressaten zum Schreiben eines ähnlichen Werkes zu führen?
Dieser Fragenkatalog zur Interpretation von Dichterwerken ist je nach Interpre-tationssituation flexibel als eine Art Checkliste zu handhaben. Besonders zu differenzieren ist hinsichtlich der Gattungsformen bei den Fragen zur Gestalt oder Form des Werkes: So erstreckt sich Frage 23 vornehmlich auf epische, Frage 24 auf lyrische sowie Frage 25 auf dramatische Werke. Indessen kommen gattungsformenspezifische Schwerpunktsetzungen ebenfalls bei den Fragen zum Inhalt oder Gehalt in Betracht. Zum Beispiel spielen die Figuren oder handelnden Personen in Theaterstücken, Erzählwerken und Gedichten in der Regel recht unterschiedliche Rollen. Gleichfalls nimmt die Thematik in diesen Dichterwerken überwiegend einen jeweils anderen Stellenwert ein bzw. ist unterschiedlich strukturiert. Beispielsweise geht es in der Lyrik zum großen Teil mehr um Grundmotive, Landschaft, Natur, Stimmungen als um Probleme und ihre Bewältigung, allerdings kommt letzterem in der politischen Lyrik, Großstadtlyrik, Gedankenlyrik, Alltagslyrik durchaus eine beachtliche Bedeutung zu. Ein umfassendes Interpretationsbeispiel zur Dramatik oder Theatertheorie hat der Verfasser über Dürrenmatts berühmte Tragikomödie "Die Physiker" veröffentlicht (vgl. Pukas 2010). Für die einzelnen Gattungsformen liefert Gelfert (1990; 1992, 1993a; 1993b) geeignete Interpretationshilfen.
Literaturhinweise
Dietrich Pukas: Lernmanagement - Einführung in Lern- und Arbeitstechniken, 3. akt. Auflage Rinteln 2008 (Merkur Verlag), S. 130-138; Dietrich Pukas: Formen der Literaturbetrachtung und Interpretationsanleitung ... In: Erziehungswissenschaft und Beruf (EWuB) Heft 2/2007, S. 274-284 (Merkur Verlag); Dietrich Pukas: Lyrik und Gedichtinterpretation im Deutschunterricht beruflicer Schulen. In: EWuB Heft 1/2001, S. 91-121; Dietrich Pukas: Interpretationsbeispiel von Friedrich Dürrenmatts Tagikomödie "Die Physiker" hfür den Deutsch-, Ethik- und Politikunterricht an beruflichen Schulen. In: EWuB 58 (2010) 4, S. 505-527; Hans-Dieter Gelfert: Wie interpretiert man einen Roman? Stuttgart 1993 (Reclam); Hans-Dieter Gelfert: Wie interpretiert man eine Novelle und eine Kurzgeschichte? Stuttgart 1993 (Reclam Verlag); Hans-Dieter Gelfert: Wie interpretiert man ein Drama? Stuttgart 1992 (Reclam); Hans-Dieter Gelfert: Wie interpretiert man ein Gedicht? Stuttgart 1990 (Reclam);